Radio-Days

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Da kommt ganz plötzlich Rhythmus in die Bude

Wie letztlich in einem Beitrag zum Gemischtwarenladen bereits anmerkte, bezeichne ich mich selbst als einen ausgemachten Radio-Freak. Erste Symptome für die beinahe magnetische Anziehungskraft des sprechenden und zeitweise lärmenden Kastens, der in früheren Jahren noch mit Schriftzügen wie Telefunken, Loewe-Opta, SABA, Nordmende oder Grundig versehen war, machten sich in frühester Jugend bemerkbar und waren obendrein so manches Mal mit körperlichen Schmerzen verbunden.

Bestes Beispiel, meine „Ferien“ (deshalb in Anführungszeichen, da ich den Begriff in seinem Ursprung grundsätzlich umdefinieren würde) auf dem Bauernhof, wo mein Opa mütterlicherseits das Kommando führte. Auf dem, für meine Empfindung, riesigen Gehöft, auf welchem, je nach Agrarplanung, bis zu zehn Erwachsene und etliche Kinder wohnten, existierte sage und schreibe nur ein einziger Radioempfänger – wie man die monströsen Gehäuse damals noch nannte. Und dieses Objekt war dort platziert, wo anderenorts (also in der direkten Nachbarschaft) der Heilige Bartholomäus oder gar Jesus mitsamt einem Kreuz zu baumeln pflegt. Für einen Dreikäsehoch wie ich es war, in schwindelerregender Höhe und fixiert auf einem massiven Regalbrett. Zugriff auf dieses Wunder der Technik hatten ausnahmslos zwei Personen. Mein Opa und dessen hinkender Bruder, der unablässig darüber lamentierte, dass es im ganzen Reich keinen mehr gibt, der so tolle Reden wie Goebbels schmettern kann.

Mich interessierten weder Goebbels noch langweiliges Geschwätz und schon gar nicht der Wetterbericht für die kommenden Tage. Ich wollte, gar musste, um exakt 18:05 Uhr die Erkennungsmelodie von Hallo Twen in den Lauschkanal bekommen, einer täglich ausgestrahlten Musiksendung im Saarländischen Rundfunk, die von dem Alleswisser in Sachen neuer Musik, Manfred Sexauer, moderiert wurde. Was die unterschiedlichsten Interessen anging, prallten im Gemäuer des Wohntraktes auf jenem Gehöft, nicht nur Welten, sondern ganze Universen aufeinander. Eine gar feindliche Übernahme in Sachen Frequenzbereich wurde mir zudem erschwert, indem meine Urgroßmutter, in ihrer ständigen Inkontinenz badend, mit Adleraugen verfolgte, wessen Hände wonach auf dem Anwesen ihres Sohnes griffen.

Da um exakt diese Zeit, am gerade beginnenden Abend, auf einem Bauernhof die Kühe gemolken, die Pferde mit Hafer versorgt, die Hühner hinter Schloss und Riegel und die Schweine mit etwas gefüttert werden, was ich meinem größten Feind nicht servieren würde, schien mir die Zeit ideal zur Machtübernahme. Der Hinkebein-Onkel feilte irgendwo an seinem Holzbein und den nicht sterben wollenden Erinnerungen an das Tausendjährige Reich, Opa und Oma bei den Tieren und die Uroma wie einbetoniert im durchnässten Korbsessel. Diese, stets griesgrämig wirkende Wachhündin aus ihrem Hochsicherheitstrakt zu locken war nicht sonderlich schwer. Ich log (weil es die Situation erforderte) und behauptete, der Postbote stünde im Flur und wolle ihr eine Überweisung der Nichte aus Redwood in Kalifornien (wohin ein Strang der Großfamilie vor x-Jahren ausgewandert war) auszahlen. Nach Überbringung einer solchen Botschaft erhebt sich auch der fetteste Hintern.

Kaum den Tisch an die Wand geschoben und die Hand am Frequenzregler, vernahm ich auch bereits die Stimme des Moderators, der mir in den folgenden 55 Minuten verkünden würde, was sich auf dem internationalen Musikmarkt in den vergangenen 24 Stunden so getan hat. Runter vom Tisch, den wieder an seinen angestammten Platz geschoben und ich, ganz allein mit Manfred Sexauer, auf der riesigen Holzbank. Nur ja nicht in den Korbsessel! Egal, wie bequem das Möbelstück sich auch anbiedern mag.

Die Rückkehr meiner Uroma, obwohl noch schlechter gelaunt als sonst üblich, gestaltete sich dennoch friedlicher als im schlimmsten Fall angenommen. So sehr mit der unverschämten Art der Post- und Geldzusteller beschäftigt, daher deren sofortige Entlassung, wenn nicht gar Hinrichtung einfordernd, nahm sie die Klänge aus dem Radio überhaupt nicht wahr. Möglicherweise war sie sowieso schon taub und reagierte nur auf Laute, die wie Rente oder Briefträger klangen.
Im krassen Gegensatz zu meinem Opa, der alles hörte, das Gehörte manchmal, wenn es ihm in den Kram passte, auch innerlich verarbeitete und nie wieder vergaß. Dazu zählte auch das Wissen, dass um 18:30 Uhr die Nachrichten vom Raiffeisen (dem Verbund der Bauern schlechthin) ihren Weg zu seinen Ohren finden müssen. Artikel 1 seines internen Grundgesetzes. Doch an dem Tag hatte der Raiffeisenverband Sendepause und Deep Purple, Led Zeppelin und Creedence Clearwater verbreiteten ihre Botschaften, die zwar nur wenig mit der Agrarwirtschaft zu tun hatten, aber dafür mit mehr Rhythmus ins gemütliche Zuhause gelangten.

Manfred Sexauer -Hallo Twen

Mit diesem gemütlichen Zuhause hatte es sich dann aber auch umgehend. Meine Uroma wusste nicht, wie ihr geschah, als ihr Urenkel sie und ihren Korbsessel in feinster Hürdenmanier überwand und der tobende Sohn einen kurzen Moment darüber nachdachte, ob er seine Wachhündin nicht dorthin nageln sollte, wo normalerweise der Heilige Bartholomäus oder Jesus mitsamt seinem Kreuz hängt. Dies ließ sich jedoch nicht umsetzen, da dort ja bereits das Radio stand, aus dem gerade Melanie ihre friedlichen Botschaften verbreitete.


Das sollte eigentlich erst der Einstieg in meine Radio-Sucht bedeuten. Wenn noch Interesse an der einen oder anderen Episode rund um das Kultobjekt Radio bestehen sollte, solltet ihr mich das auch mit ein paar wenigen Sätzen wissen lassen.



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